Psychologie: Wege aus dem Wirrwarr der Möglichkeiten
Noch nie konnten wir so viel entscheiden wie heute. Die vielen Möglichkeiten machen uns das Leben schwer. Wie können wir trotzdem die richtige Wahl treffen? Es gibt ein paar Tricks, wie man die subtilen Einflüsse von außen erkennen – und ignorieren kann.
Ein außergewöhnlicher Patient saß 1982 im Wartezimmer des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio. Er hieß Elliot, einige Monate zuvor war ihm ein Tumor aus dem Gehirn operiert worden, gleich hinter der Stirn. Der Tumor war klein, doch die Folgen waren tragisch: Aus dem tüchtigen Mann war ein chronischer Zögerer geworden. Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Sender entscheiden konnte. Er konnte kein Wort schreiben, wenn ein schwarzer und ein blauer Stift zur Wahl standen. Elliot war alltagsuntauglich geworden. Denken konnte er noch bestens, sein Intelligenzquotient war unverändert. Nur sich entscheiden, das konnte er nicht mehr.
Entscheidungen – wie viele davon treffen wir jeden Tag? Manchmal scheint das Leben ein endloses Herumirren in einem Wald von Möglichkeiten zu sein. Die Menschen können heute so viel entscheiden wie nie zuvor. Es wirkt wie die große Freiheit. Aber es hat die Menschen nicht glücklicher gemacht. Im Gegenteil. Psychologen sprechen von einer »Tyrannei der Wahl«. Warum zu viel Auswahl unglücklich macht, ist nicht eindeutig geklärt. Die Forscher haben erst angefangen zu verstehen, was bei Entscheidungen in uns vorgeht. Und sie entdecken dabei, wie sehr wir beeinflusst werden: von den Hormonen, den Tricks von Verkäufern, der eigenen Herkunft und der Familie und natürlich von unseren spontanen Gefühlen. Sie zeigen aber auch, warum es so schwierig ist, sich bewusst gegen gesellschaftliche Konventionen zu entscheiden und wie wir mit Fehlentscheidungen umgehen.
Damasio ahnte damals, dass ihn der Fall Elliot einer Erklärung näherbringen könnte. Er befragte Freunde und Verwandte seines Patienten, unterzog ihn diversen Tests und kam auf die Erklärung: Elliot war emotional erkaltet. »In den vielen Stunden des Gesprächs mit ihm sah ich nie den Hauch einer Emotion«, erinnerte sich Damasio, »keine Traurigkeit, keine Ungeduld, keine Frustration.« Elliot konnte sich nicht mehr entscheiden, weil alles sich gleich anfühlte. Damasio suchte nach ähnlichen Fällen und fand Menschen, die all ihr Fühlen verloren hatten – und damit ihre Fähigkeit zu entscheiden.
Es war eine völlig unerwartete Entdeckung. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert war die herrschende Meinung gewesen: Menschen entscheiden rational. Gefühle stören dabei nur. Damasios Patienten brachten eine andere Wahrheit ans Licht: Ohne Gefühl ist der Verstand hilflos. Damasio schrieb ein Buch mit dem Titel Descartes’ Irrtum . Die Stimmung unter den Forschern kippte zugunsten des Gefühls .
Das Gehirn ausschalten und dem Bauch folgen: Ist das also die Lösung? Nein, auf den Bauch allein ist ebenfalls kein Verlass. Erstaunlich leicht lassen wir uns von unseren unbewussten Vorurteilen, Ängsten und Assoziationen beeinflussen, wie der Psychologe Daniel Kahnemann gezeigt hat . »Die Anekdoten über Feuerwehrleute oder Ärzte mit wunderbarer Intuition sind nicht überraschend«, sagt Kahnemann, »sie haben lange Zeit gehabt, um zu Experten zu werden. Interessant ist, dass Menschen oft Intuitionen haben, auf die sie sich genauso fest verlassen, obwohl sie falsch sind.«
Aus guten Gründen also haben Menschen beides, Gefühl und Verstand. Das Geheimnis guten Entscheidens besteht darin, beide mitreden zu lassen. Einfach ist es, wenn eine Option klar besser erscheint als der Rest. Aber so leicht ist es nicht immer. Fast jeder hat mal Lust auf Schokolade, obwohl sie dick machen kann. Fast jeder weiß, dass er arbeiten muss, obwohl er ein bisschen faul ist. Dann gilt es, Frieden zu stiften zwischen Gefühl und Verstand……
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